Foto-Ausstellungsprojekt “Frauen in Hamm”

“Wer war Marianne Rosenbaum?”

Analog-digitales Fotoprojekt:
Zeitreise in Hamburg Hamm mit Ausstellung im öffentlichen Raum
Fotografische Porträts von Frauen im Hamburger Stadtteil Hamm.

Ausstellungsdauer:  20. September – November 2024
Eröffnung mit Fahrradtour 20.09. 2024, 15 Uhr (Treffpunkt Thörls Park Eingang Sievekingdamm Ecke Hammer Landstraße)

Auf dieser Seite sind die Fotos und die biographischen Interviews zu finden.
Erst kommen allgemeine Infos zum Projekt – und darunter gibt es dann die faszinierenden Bilder und Geschichten!

Mit dem Foto-Ausstellungsprojekt „Wer war Marianne Rosenbaum?“ erarbeiteten Medienkünstlerin und Fotografin Vera Drebusch und Stephanie Kanne (Leitung Stadtteilarchiv Hamm) ein weibliches Abbild des Stadtteils Hamburg-Hamm. Drei zentrale Persönlichkeiten des Quartiers und vier relevante weibliche Figuren der Stadtteilgeschichte wurden auf großformatigen Porträts abgebildet und im öffentlichen Raum gezeigt. Die Plakat-Stellwände der Stadtteilinitiative Hamm e.V. sowie Hauswände in Hamm dienten als temporäre Ausstellungsflächen und wurden mit den Fotografien bespielt. Auf den einzelnen Stationen konnten Tourist*innen und Anwohner*innen via QR-Code auf die Projektwebsite zugreifen. Hier können Gespräche mit den Akteurinnen nachgehört werden. Daneben sind Texte zu finden, die einen Einblick in das Leben und Wirken der Frauen geben.

Die Serie wurde über acht Wochen in der Kolumne der Stadtteilinitiative im Hamburger Wochenblatt publiziert (s.u.), wo die Protagonistinnen vorgestellt wurden. Die Frauen-Porträts wurden auch via Instagram und Facebook verbreitet.

Mit dem Projekt soll eine Begegnung zwischen Vergangenheit und Gegenwart stattfinden und ein breiteres Verständnis dafür entstehen, welche wichtigen Frauen-Vorbilder im Archiv und im Stadtteil schlummern. Weitergeführt wird das Projekt 2025 mit einer Indoor-Ausstellung in Hamm sowie einer Broschüre.

Elfriede Jertschat
Collage von Vera Drebusch (2024)
Fotografie „Elfriede Jertschat“ (verm. 1969), Privatbesitz / Taschentuch, Elfriede Jertschat (geb. Lang), Privatbesitz
Installation: Südpol (entfernt) und Eingang Hammer Park (Sievekingsallee)

Was bewegt uns, sich mit der eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen?

Diese Frage ging uns während unseres Projekts immer wieder durch den Kopf. Natürlich ist man neugierig, möchte wissen, mit wem man da eigentlich genau verwandt ist, und vielleicht auch, ob es über die Generationen hinweg Gemeinsamkeiten gibt.

Es ist die eigene Geschichte, mit der man sich da beschäftigt. Neben spannenden, lustigen und manchmal traurigen Geschichten, die man sich von Vater zu Tochter oder Tante zu Neffe erzählt, sind Fotos häufig der Ausgangspunkt unserer Wurzelsuche. Wer hat nicht schon mal überlegt, ob er*sie mit der Oma oder dem Opa Ähnlichkeit hat. Wenn wir dann noch tolle Vorbilder in der eigenen Familie finden, dann wünscht man sich umso mehr Ähnlichkeit zu ihnen. Fotos von Verstorbenen hängen wir gerne auf, um an sie zu denken, um sie uns regelmäßig in Erinnerung zu rufen und um ihnen nahe zu sein. Und wir kleben Fotos in Alben, verschenken Fotogeschenke zu Weihnachten oder posten sie auf Instagram und Facebook, damit auch andere sie sehen können.

Als Rolf Jertschat uns von seiner Mutter Elfriede erzählte, waren wir ganz Ohr. Er war hingegen noch skeptisch – ist das Leben seiner Mutter denn überhaupt „spannend genug“ für das Projekt? Auch diese Frage haben wir in unseren Vorbereitungen diskutiert: Ab wann gilt jemand eigentlich als „geschichtswürdig“? Was muss eine Person erlebt und getan haben, um Namensgeber*in einer Straße zu werden oder um in einem Geschichtsbuch zu stehen?
Wann erinnern wir eine Person – individuell oder auch kollektiv?

Elfriede Jertschat  –  Erinnerungen

Nach dem Tod seiner Mutter Elfriede hat Rolf handgeschriebene Notizen in ihrer Wohnung gefunden. Nach und nach hat er die teils losen Erinnerungen zusammengefügt und in Form eines Lebenslaufs chronologisch sortiert und abgetippt. Elfriede Jertschat wurde am 6. Januar 1924 in Hamburg – Rothenburgsort in der Freihafenstraße 21 geboren. Ihre Eltern Gretchen und Gotthilf haben am 20. September 1921 geheiratet.

Gotthilf, als Geselle auf Wanderschaft aus Württemberg, arbeitete als gelernter Schmied beim Hamburger Gaswerk. Gretchen kam als Haushaltshilfe aus Reichenbach im Vogtland und führte dem alleinerziehenden Vater von vier Jungen im Alter von 10 bis 15 Jahren den Haushalt. Die Familie zog 1930 auf die Veddel „Am Gleise 11“.

Die Notizen beginnen 1929. Elfriede hatte mit ihrer Mutter beim Einkauf vor der „Pro“[1] gewartet. Zusammen mit einer Freundin ist sie dann aber „neugierig um die Ecken gezogen“, um ein neues Kinoplakat anzuschauen. Dabei verliefen sie sich und landeten schlussendlich bei der Polizei in der Süderstraße. Abschließend bemerkt sie: „Zuhause drohte Ärger, aber ich bin ganz schnell aufs Klo gelaufen.“ Sie wurde eingeschult in die Veddeler Dorfschule und hat nach Fertigstellung in die Schule am Slomanstieg gewechselt. 1936 zog die Familie nach Hamm in die Marienthaler Straße 17a und 1937 nach Horn Hermannstal 69. Die Notizen enden mit Einträgen, die Rolf ergänzt hat: Dem Umzug ins Heim, der zunehmenden Demenz und schließlich ihrem Todestag am 5. Juni 2017. „Jetzt bin ich wieder an Harrys Seite“ schrieb Rolf darunter. Ihr Mann Harry verstarb am 22. Januar 2005.

In den Jahren dazwischen hält Elfriede vor allem wichtige Schritte ihres Lebens auf Papier fest: Schulzeit, Jobwechsel, Umzüge, Urlaube und Krankheiten. In Leitzordnern hat Rolf zudem Zeugnisse, Fotos, Briefe, Urlaubspostkarten, Ausweise und Urkunden abgelegt. Darunter Olaf Scholz‘ Gratulation zum 90. Geburtstag oder Lebensmittelmarken von 1950, die nach dem Krieg eine gleichmäßige Verteilung von Grundnahrungsmitteln gewährleisten sollten.[2] Von 1938-39, notierte Elfriede, verbrachte sie mit 14 Jahren ein Jahr auf dem Lande in Klein Neudorf bei Bosau in Holstein. Das sogenannte „Hauswirtschaftliche Jahr“ war ab Februar 1938 Teil des nationalsozialistischen Staatsprogramms und sollte junge Frauen „im Sinne des deutschen Frauentums“ erziehen. Es sollte sie auf ein Leben als Hausfrau und Mutter vorbereiten. Und auf dem Land fehlten häufig Arbeitskräfte. Während der Kriegsjahre sollte die Lebensmittelproduktion sichergestellt sein.[3] Elfriede erhielt ein kleines Taschengeld von 10 Reichsmark im Monat. Dafür hätte sie 1938 in Hamburg etwa 43 Liter Vollmilch oder 4 Kilo gerösteten Bohnenkaffee kaufen können.[4]

Im April 1939 trat Elfriede ihre Lehrzeit als Schneiderin an. In einem Jutebeutel bewahrt Rolf den silbernen Fingerhut seiner Mutter auf, den sie im März 1942 zur Gesellenprüfung an der Gewerbeschule IV in der Angerstraße erhielt.

Wurzeln schlagen

Rolf nahm seine Mutter immer eher als zurückhaltend wahr. Viel preisgegeben über sich habe sie nicht. Umso wertvoller war es für ihn, die Notizen zu lesen und zusammenzutragen. Rolf ist es wichtig, dass die folgenden Generationen einen Einblick in das Leben seiner Mutter bekommen. Dass sie sich ein Bild von ihr machen und ihre Wurzeln kennenlernen können. Seiner Mutter, so Rolf, sei es selbst schwergefallen, Wurzeln zu schlagen. Die vielen Umzüge und das Wohnungsgesuche waren für sie ein „leidiges“, aber leider auch beständiges Thema ihrer Notizen. Häufig warteten Elfriede und ihr Mann Harry auf Meldungen vom Wohnungsamt.

Nachdem sie 1959 nach mehreren Monaten Wartezeit die Nachricht erhielten, dass sie zum Ende des Jahres in einen Neubau in Bramfeld einziehen können, vermerkt sie: „Wir sind damit vollkommen zufrieden. Wahrscheinlich verdanken wir diese enorme Verzögerung dem fleißig arbeitenden Wohnungsamt.“ Nur aus der Wohnung in Bramfeld im August 1959 wurde nichts, dafür klappte es im Dezember 1959 in Dulsberg im Alten Teichweg 147b.

1945 waren ca. 50% der Wohnungen in Hamburg vollständig zerstört. Barmbek, Eilbek, Hamm, Dulsberg, Rothenburgsort und Horn lagen größtenteils in Trümmern. In den ersten Nachkriegsjahren wohnten viele Hamburger*innen in Notunterkünften oder bauten sich Provisorien in den Ruinen.[5] Die runden, sogenannten Nissenhütten mit Wellblechdächern sind zum Symbolbild der Nachkriegszeit geworden.[6]

Während des Krieges wurde Elfriede zum Kriegshilfsdienst in der „Heeres-Munitionsanstalt Jüterbog“ verpflichtet. Die gelernte Schneiderin fertigte dort vom 1. April bis zum 31. Oktober 1943 Säckchen an, in denen Munition aufbewahrt wurde. Als sie im Oktober zurück nach Hamburg kam, schreibt sie, „von Hamburg war nicht mehr viel übrig.“ Aber das Elternhaus im Hermannstal in Horn stand noch. Ihr Vater hatte die Brandbomben mit einer Feuerklatsche[7] löschen können.

Harry lernte sie über eine Kontaktzeige kennen, er suchte nach einer Begleitung fürs Theater und für Freizeitaktivitäten. Geheiratet haben sie am 8. Mai 1948. Er war Kaufmann, und sie erwarben 1954 einen Laden in Barmbek in der Schmachthäger Straße. Hier konnte man Tabak, Zeitschriften und Getränke kaufen. Im September 1956 zogen sie hinter den Laden, dort war eine Flak-Baracke als Wohnraum freigeworden. Oft konnten sie nicht zusammen in den Urlaub fahren. Eine*r musste immer am Laden bleiben. Hinterm Tresen zu stehen war nicht Elfriedes Sache, sie versorgte lieber ihre kleine Familie, ihren Mann Harry, ihre Eltern Gretchen und Gotthilf und Sohn Rolf. Elfriede vermied unnötige Ausgaben, sie führte gewissenhaft ein Haushaltsbuch und achtete auf das vorhandene Geld. Die Sparsamkeit und Bescheidenheit hatte sie von ihrer Mutter in der kargen Zeit ihrer Jugend gelernt. Den einzigen Luxus gönnte sich das Ehepaar auf Reisen mit den Naturfreunden oder auf eigene Faust durch Deutschland.

[1] Die „Produktion“ war ein Hamburger Konsum-, Bau- und Sparverein. Zur „Pro“ gehörten u.a. Läden, Bäckereien und Wohnungen. Vgl.: Hamburger Genossenschafts-Museum: Durchbruch bei der „Produktion“, URL: https://genossenschafts-museum.hamburg/gruenderzeiten/vorreiter-produktion/ (Stand: 19.06.2024).

[2] Lebendiges Museum Online: Lebensmittelkarte, URL: https://www.hdg.de/lemo/bestand/objekt/druckgut-lebensmittelkarte.html (Stand: 19.06.2024).

[3] Deutschlandfunk: Hauswirtschaft auf Verordnung, URL: https://www.deutschlandfunk.de/hauswirtschaft-auf-verordnung-100.html (Stand: 18.06.2024).

[4] Die Zahlen sind entnommen aus: Statistisches Landesamt der Hansestadt Hamburg (Hg.): Hamburg in Zahlen, Hamburg 1952, Heft Nr. 7, S. 115-117.

[5] Asseyer, Ruth: Architektur: Wie sah Hamburg bei Kriegsende aus? In: NDR, URL: https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/kriegsende/Architektur-Wie-sah-Hamburg-bei-Kriegsende-aus,kriegsende622.html#:~:text=Das%20Ausma%C3%9F%20der%20Zerst%C3%B6rung%20in,Millionen%20Kubikmeter%20Tr%C3%BCmmer%20lagen%20herum. (Stand: 17.06.2024).

[6] Eine Nissenhütte ist im Freilichtmuseum am Kiekeberg zu besichtigen. Vgl.: Freilichtmuseum am Kiekeberg: Gärten, URL: https://www.kiekeberg-museum.de/blick-ins-museum/das-museum/gaerten/ (Stand: 18.06.2024).

[7] Eine Feuerklatsche oder Feuerpatsche besteht aus einem langen Stab und einem fächerförmigen Ende aus Leder oder Metall.

Paula Krupp
Collage von Vera Drebusch (2024)
Fotografie „Paula Krupp“, Vera Drebusch (2023) / Grundriss, Paula Krupp
Installation: Bunker Hammer Deich 155 (entfernt) und Südpol

Paula Krupp berichtete in unserem Interview von einem Bombenangriff während des 2. Weltkrieges. Sie schilderte uns ihren Weg von ihrem Büro bis zum Bunker im Sievekingdamm / Ecke Wolfshagen.

Paula Krupp

Paula Krupp besuchte das Stadtteilarchiv Hamm in den 1990er-Jahren. In einem Interview mit den damaligen Mitarbeiter*innen des Archivs berichtete sie von ihrer Kindheit in Oben Borgfelde 15 – von ihrem Roller mit Eisenbereifung, der beim „Rollern“ durch die Borgfelder Straße und Klaus-Groth-Straße für ordentlich „Donnergetöse“ sorgte. Der Nachfolger, ein blauer Wipproller, den sie im Alter von 12 Jahren bekommen hat, ziert heute den Eingangsbereich des Stadtteilarchivs.

Wir trafen uns mit Paula Krupp in ihrem Haus in der Hamburger Umgebung. In Borgfelde lebte sie bis zum Juli 1943, kurz vor den Luftangriffen der Alliierten. Die elterliche Wohnung wurde zwischen dem 26. und 27. Juli 1943 zerstört. [1] 1943 war Paula Krupp 22 Jahre alt.

„Du bist ein Dokumentator!“

Nachdem wir das etwas sperrige Eisentor geöffnet hatten und den herbstlichen Garten passierten, wartete Frau Krupp bereits mit Tee, Plätzchen und kunstvoll gefalteten Servietten auf uns. In einer Ecke im Wohnzimmer steht eine Miniatureisenbahnlandschaft mit Bergen. An diesem Nachmittag lässt Frau Krupp uns an ihren vielen Erinnerungen teilhaben. Sie erzählt uns von ihrer Familie und Kindheit in Borgfelde, ihrem Berufsleben während der Kriegsjahre, ihrer Flucht in den Luftschutzbunker in Wolfshagen in Hamm und den Zerstörungen ihres Zuhauses. Auch über das Zugunglück ihrer Schwester spricht sie mit uns. Getrud saß in einem Personenzug am Bahnhof Lindwedel, als dort am 15. Oktober 1944 Tiefflieger diesen beschossen. Ihre Schwester suchte daraufhin Schutz unter einem danebenstehenden Güterzug. Sie ahnte nicht, dass dieser mit Munition und Torpedos beladen war. Die Flugzeuge flogen einen Bogen und beschossen anschließend den Güterzug, der daraufhin explodierte. Gertrud wurde weggeschleudert durch den Druck, aber überlebte.[2]

2024 wird Paula Krupp 103 Jahre alt. Über die vielen „wahnsinnig interessanten“ Zufälle, zu denen es in ihrem Leben immer wieder kam, schmunzelt sie. Viele ihrer Erinnerungen hat sie aufgeschrieben. „Du bist ein Dokumentator!“, hat schon einmal eine Schulfreundin zu ihr gesagt, mit der sie gemeinsam das Abitur machte und die sie Jahre später im Altersheim besuchte.

Nach der Schule entschied sie sich für eine Ausbildung als Bauzeichnerin. „Sie ist von ausgeprägter manueller Begabung“, steht in ihrem Abiturzeugnis. Das sei ein Satz, der ihr mehr bedeutete als die eigentlichen Zeugnisnoten, erklärt sie uns. Ihre erste Stelle trat sie bei dem Hamburger Architekten Rudolf Klophaus an. Nach dem Krieg half sie beim Wiederaufbau von Hamburg und zeichnete Pläne für Sozialwohnungen, die dringend benötigt wurden. Auch von der zerstörten Wohnung in Borgfelde hat sie 1988 einen Grundriss gezeichnet. Aus dem Gedächtnis heraus brachte sie Kohleherd, Nähtisch und co. wieder an ihren Platz. Als Maßstab dienten ihr das Klavier und die Betten. Die Betten, erinnert sie sich, waren 1x2m groß.

 „Plötzlich hatte ich immer das Gefühl, das wird eine Petzizeichung.“

1966 begann sie mit Zeichnungen von „guten und schlechten“ Erlebnissen. Zu Beginn malt sich Paula Krupp auf diesen noch in menschlicher Erscheinung. Später wandelt sich ihr gezeichnetes Alter Ego in eine Teddybären-Figur, in Bärchen. Inspiriert wird sie von einer kleinen Teddybär-Figur, die sie vor dem Krieg von einer älteren Dame geschenkt bekommen hat und die sie heute noch durchs Leben begleitet. Ihre Schwester und ihre Mutter bekamen später auch je eine Figur und sind ebenfalls Protagonistinnen ihrer Zeichnungen: Petzi und Brummi. Ein paar Tage nach unserem Interview kommt ein Brief von Paula Krupp im Stadtteilarchiv an. Darin befinden sich vier Petzizeichnungen mit einer Rückblende auf 1945, die sie am 14.11.1990 aufgezeichnet hat. Darauf zu sehen ist Brummi, wie sie Bärchen an den Schultern zieht, während diese das vor dem Krieg und den alliierten Soldaten im Garten vergrabene Silber wieder herausholt.

Briefe

Über drei Stunden sprechen wir an diesem Tag mit Paula Krupp. Draußen ist es bereits dunkel, als wir sie zum Abschluss fragen, ob es Dinge gäbe, die sie gerne vorher gewusst hätte. Sie erzählt uns von ihrer ersten großen Liebe, ihrem Verlobten, den sie im Frühjahr 1939 kennenlernte. Sieben Mal haben sie sich in den sechs Kriegsjahren getroffen. Kurz nach Kriegsbeginn wurde er eingezogen. Er wurde erst nach Frankreich und dann an die Ostfront geschickt. In seiner Zeit als Soldat haben sie sich viele Briefe geschickt. Nach zwei Jahren, die er ohne Urlaub im Krieg in Russland verbracht hatte, fand am 19.04.1943 die Verlobung bei seinen Eltern in Thüringen statt. Danach haben sie sich nicht wiedergesehen. Im Alter von 24 Jahren stirbt er als Soldat an der Front. Viele Jahre danach begann sie, all seine Briefe für die Familie abzutippen. Die abgetippten Briefe hat sie seiner Familie geschickt, die daraus zehn Bücher hat binden lassen. Sein Portrait hängt über ihrem Bett.

[1] Im Juli 1943 begann eine Serie starker Luftangriffe der britischen und amerikanischen Alliierten auf Hamburg. Bei der sogenannten „Operation Gomorrha“ starben über 30.000 Menschen. Die Zerstörung in den östlichen Hamburger Stadtteilen, zu denen Borgfelde und Hamm zählen, war verheerend. Hamm wurde zu 96% zerstört. Aufgrund der hohen Temperaturen und dem flächendeckenden Bombardement wird in diesem Kontext auch häufig von einem „Feuersturm“ gesprochen. Vgl.: Stadtteilarchiv Hamm: Die längste Nacht. Zeitzeugen berichten über den Feuersturm, Hamburg 2013, S. 34.

[2] Die Zahl der Toten ist nicht genau erfasst. Schätzungen zufolge starben zwischen 70 und 460 Menschen bei dem Luftangriff auf Lindwedel. Vgl.: Krasselt, Andreas: Buch über Bahnkatastrophe nach Luftangriff im Jahr 1944: Autoren lesen in Lindwedel, in: Hannoversche Allgemeine, URL: https://www.haz.de/lokales/umland/wedemark/lindwedel-lesung-aus-buch-ueber-bahnkatastrophe-nach-luftangriff-1944-PNYQL42AVMINJBC4V5NRIWTVEQ.html#:~:text=Damals%2C%20am%2015.%20Oktober%201944,schwanken%20zwischen%2070%20und%20460 , 05.05.2022 (Zugang: 03.05.2024).

Marianne Rendsburg
Collage von Vera Drebusch (2024)
Fotografie „Marianne Rendsburg“, verm. Julius Sachs, Stadtteilarchiv Hamm (1939-40) / Fotografie „Hammer Landstraße 59“, Stadtteilarchiv Hamm (1939)
Installation: U-Bahn Hammer Kirche und Südpol

Marianne Rendsburg

Marianne Rendsburg lebte gemeinsam mit ihren Eltern Else Emma Rosenbaum und Dr. Max Rosenbaum in der Hammer Landstraße 59. Am Fuß der Krugtwiete, neben der Fußgängerampel, erinnern mehrere Stolpersteine an die Familie. Bis zu den alliierten[1] Luftangriffen auf Hamburg im 2. Weltkrieg war die Straßenseite von Wohnhäusern gesäumt. Entlang des Geesthangs fahren heute die U-Bahnlinien U2 und U4. 

1939 heiratete Marianne Manfred Rendsburg, der dann ebenfalls zu den Schwiegereltern in die Hammer Landstraße zog. In einem Interview im Jahr 2001 sprach er erstmals mit Mitarbeitenden des Stadtteilarchivs über sein Schicksal und von dem seiner Frau, die am 24.05.1920 als Marianne Rosenbaum geboren wurde.

Marianne und ihre Familie wurden nach den Nürnberger Gesetzen[2] als jüdisch kategorisiert. Manfred Rendsburg berichtete, dass es für die Familie „[…] besonders bitter gewesen“[3] sei, als sie dies erfuhren. Die Familie sei evangelisch und seit Generationen getauft. Zu dieser Zeit, so Rendsburg, war auch bereits das Tragen des sogenannten „Judensterns“ verpflichtend gewesen: ein Stern mit sechs Zacken aus gelben Stoff, in der Mitte die Aufschrift „Jude“. Seit September 1941 musste dieser von Juden*Jüdinnen auf der linken Brustseite erkennbar getragen werden.[4] Dies stigmatisierte sie gegenüber ihrer Mitmenschen und erleichterte ihre Ausgrenzung.

Von den zunehmenden alltäglichen Restriktionen gegenüber jüdischen Mitbürger*innen berichtete auch ein Freund des Paares, Kurt Sunkel, 2001 in einem Interview.[5] Ihm blieb Mariannes Umgang mit den Anfeindungen im Gedächtnis:

„Über die Marianne war ich platt. Sie ist angesprochen worden auf den Judenstern, und da sagt sie, während ich draufzukam, ob er sich nun satt gesehen hätte. Die war nicht bange!“[6]

Ärztin. Schneiderin. Pflegerin.

Aufgrund der politischen Situation, so Manfred Rendsburg, sei es Marianne nicht mehr möglich gewesen, wie geplant ein Abitur abzulegen oder zu studieren. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Schneiderin in einer Firma am Mittelweg. Augenärztin habe sie eigentlich werden wollen.[7] Auf erhaltenen Haftdokumenten aus dem Konzentrationslager Stutthof wurde als Beruf Pflegerin eingetragen.[8]

Ihre Eltern Else Emma Rosenbaum und Max Rosenbaum waren Mediziner*innen und führten eine Praxis in der Hammer Landstraße. Ihre Mutter gründete während ihres Studiums in Würzburg den „Verein studierender Frauen“ und gehörte zu den ersten Ärztinnen im Kaiserreich. [9] 1938 wurde beiden die Arbeitserlaubnis entzogen.[10] Am 30. September 1938 wurde allen jüdischen Ärzt*innen die Berufsausübung per Gesetz verboten.[11]

Marianne und Manfred Rendsburg hatten Auswanderungspläne, an die sich Kurt Sunkel erinnert: „Ich seh die Koffer noch alle beim Aufladen, aber sie sind nicht mehr weggekommen.“[12] Im Oktober 1941 wurden das junge Ehepaar und Mariannes Eltern, Elsa Emma Rosenbaum und Dr. Max Rosenbaum, ins Ghetto nach Lodz deportiert. Manfred Rendsburg erinnerte sich an den von Stacheldraht umzäunten Stadtteil, in dem ihrer Familie eine 20qm große Wohnung zugeteilt wurde. Else Emma Rosenbaum und Max Rosenbaum haben hier als Ärzt*innen, Manfred Rendsburg als Feuerwehrmann und Marianne Rendsburg als Schneiderin gearbeitet. Sie überlebten bis zur Räumung von Lodz 1944. Marianne und Manfred Rendsburg wurden zunächst ins KZ Auschwitz deportiert.[13] Von einer letzten zufälligen Begegnung berichtet Manfred Rendsburg:

„Nach ein paar Tagen sah ich meine Frau noch einmal wieder, aber nur am Zaun. Da hatte sie schon keine Haare mehr auf dem Kopf, sie war kahl geschoren. Für uns Männer war das nicht so schlimm, aber für die Frauen. Und dann habe ich sie nie wieder gesehen. Das war alles.“[14]

Beide kamen anschließend zum Arbeitseinsatz in das KZ Stutthof, ca. 34 Kilometer östlich von Danzig (heutige Sztutowo). Dort starb Marianne am 9. Januar 1945. Als Todesursache wurde „Herz – allgemeine Körperschwäche“ eingetragen. Daneben die Notiz, dass ihre Leiche aus hygienischen Gründen anschließend verbrannt wurde.[15]

Manfred Rendsburg überlebte bis zur Befreiung am 8. Mai 1945 durch die russischen Alliierten und floh zusammen mit Kameraden. Er kam zurück nach Hamburg. Der Verbleib der Schwiegereltern ist unbekannt. Sämtliche Angehörige wurden 1950 rückwirkend für tot erklärt. Später erhielt er einen Glastisch, Mariannes Ehering und Fotos zurück, die seine Frau vor der Deportation der Schwiegermutter ihrer Schwester übergab. Er selbst habe nichts retten können. Ihren gesamten Besitz habe das Paar abgeben müssen.[16][17]

Manfred Rendsburg stellte dem Stadtteilarchiv die Familienfotos zur Verfügung, deren Großteil der Schwager, Julius Sachs, geschossen habe.[18] Darunter 12 Portraitaufnahmen seiner Frau Marianne, die um 1939/1940 datiert sind. Der Grund für die Aufnahmen ist unbekannt. Vielleicht hat Julius Sachs sie zu Studienzwecken angefertigt. Er habe sich in Hinblick auf seine geplante, aber gescheiterte Auswanderung in die USA eine gebrauchte Fotoausrüstung gekauft und ein Volontariat als Fotograf absolviert.[19]

In der knapp 45.000 Fotos umfassenden Sammlung sind keine vergleichbaren Portraits zu finden. Aber nicht allein das große Konvolut von Marianne Rendsburgs Bildern ist ungewöhnlich. Die damals 19/20-jährige Marianne inszeniert sich auf den Portraits bei privaten Handlungen – beim Kämmen, Schminken oder Ankleiden. Ihre Portraits sind persönlich und künstlerisch. Und sie sind erhalten geblieben.

[1] Mit dem Begriff „Alliierten“ sind hier die Staaten gemeint, die im 2. Weltkrieg gemeinsam gegen Deutschland und verbündeten Länder kämpften (USA, Frankreich, Sowjetunion und Großbritanien). Vgl.: Schneider, Gerd; Toyka-Seid, Christiane: Alliierte, in: Das junge Politik-Lexikon, Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), URL: https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/das-junge-politik-lexikon/319805/alliierte/ (Zugang: 31.01.2024)

[2] Anhand bestimmter Kriterien wurde mit den Nürnberger Gesetzen ab 1935 rechtlich festgelegt, welche Menschen als Juden*Jüdinnen gelten. Zu Grunde lag diesen Gesetzen die Annahme, dass es sich beim „Jüdisch sein“ nicht nur um eine Religionszugehörigkeit handle, sondern diese auch biologisch feststellbar sei. Hinzu kamen Verbote wie etwa die Heirat zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Personen. Mit den Nürnberger Gesetzen begründete sich gesetzlich die Verfolgung und Diskriminierung von Juden*Jüdinnen. Vgl.: Vor 85 Jahren: Nürnberger Gesetze erlassen, in: kurz & knapp, Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), URL: https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/501380/vor-85-jahren-nuernberger-gesetze-erlassen/ (Zugang: 02.02.2024).

[3] Interview Manfred Rendsburg, in: Stadtteilarchiv Hamm: Wir zogen in die Hammer Landstraße. Leben und Sterben einer jüdischen Familie, Hamburg 2001, S. 8.

[4] Jüdisches Museum Berlin: „Judenstern“, URL: https://www.jmberlin.de/dauerausstellung-13-dinge-judenstern#:~:text=Ab%20September%201941%20wurden%20J%C3%BCdinnen,Brustseite%20der%20Kleidung%20getragen%20werden (Zugang: 02.02.2024).

[5] Interview Kurt Sunkel, in: Stadtteilarchiv Hamm: Wir zogen in die Hammer Landstraße. Leben und Sterben einer jüdischen Familie, Hamburg 2001, S. 35-36.

[6] Stadtteilarchiv Hamm: Wir zogen in die Hammer Landstraße. Leben und Sterben einer jüdischen Familie, Hamburg 2001, S. 35-36.

[7] Interview Manfred Rendsburg, in: Stadtteilarchiv Hamm: Wir zogen in die Hammer Landstraße. Leben und Sterben einer jüdischen Familie, Hamburg 2001, S. 13.

[8] Akte von Marianne Rendsburg, in: Arolsen Archives, URL: https://collections.arolsen-archives.org/de/document/4610985 (Stand: 12.09.2024).

[9] Vgl.: Thevs, Hildegard: Dr. Else Emma Rosenbaum, in: Stolpersteine Hamburg, URL: https://www.stolpersteine-hamburg.de/index.php?MAIN_ID=7&BIO_ID=1225 (Stand: 24.01.2024).

[10] Thevs, Hildegard: Dr. Else Emma Rosenbaum, in: Stolpersteine Hamburg, URL: https://www.stolpersteine-hamburg.de/index.php?MAIN_ID=7&BIO_ID=1225 (Stand: 09.02.2024).

[11] Schwoch, Rebecca: Approbationsentzug für jüdische Ärzte: „Bestallung erloschen“, in: Deutsches Ärzteblatt, URL: https://www.aerzteblatt.de/archiv/61644/Approbationsentzug-fuer-juedische-Aerzte-Bestallung-erloschen (Stand: 09.02.2024).

[12] Stadtteilarchiv Hamm: Wir zogen in die Hammer Landstraße. Leben und Sterben einer jüdischen Familie, Hamburg 2001, S. 35.

[13] Stadtteilarchiv Hamm: Wir zogen in die Hammer Landstraße. Leben und Sterben einer jüdischen Familie, Hamburg 2001, S. 12-13.

[14] Stadtteilarchiv Hamm: Wir zogen in die Hammer Landstraße. Leben und Sterben einer jüdischen Familie, Hamburg 2001, S. 14.

[15] Akte von Marianne Rendsburg, in: Arolsen Archives, URL: https://collections.arolsen-archives.org/de/document/4610987 (Stand: 12.09.2024).

[16] Stadtteilarchiv Hamm: Wir zogen in die Hammer Landstraße. Leben und Sterben einer jüdischen Familie, Hamburg 2001, S. 11.

[17] Juden und Jüdinnen wurden systematisch enteignet. Das daraus gewonnene Vermögen wurde beispielsweise in die Rüstungsindustrie investiert. Vgl.: Wildt, Michael: Verfolgung, in: Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft, Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), URL: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/nationalsozialismus-aufstieg-und-herrschaft-314/137221/verfolgung/ (Stand: 09.02.2024).

[18] Stadtteilarchiv Hamm: Wir zogen in die Hammer Landstraße. Leben und Sterben einer jüdischen Familie, Hamburg 2001, S. 11.

[19] Thevs, Hildegard: Gertrud Sachs, in: Stolpersteine Hamburg, URL: https://www.stolpersteine-hamburg.de/index.php?MAIN_ID=7&BIO_ID=1227 (Stand: 09.02.2024).

Amalie Sieveking
Collage von Vera Drebusch (2024)
Gemälde „Amalie Sieveking“, Hans Heinrich Porth (1841) / Fotografie „Sievekingdamm/Ecke Saling“, Stadtteilarchiv Hamm (1993)
Installation: Thörls Park und Südpol

Amalie Wilhelmine Sieveking (1794-1859)

Nach wem ist eigentlich der Sievekingdamm benannt? Der Name Sieveking hat in Hamm viele Spuren hinterlassen und ist vielleicht der bekannteste in unserem Projekt. Namenspatronin ist die Sozialreformerin Amalie Sieveking.

In Hamm gibt es den Sievekingdamm und die Sievekingsallee, die ursprünglich nach ihrem ebenfalls bekannten Cousin und Senatssyndikus Karl Sieveking[1] benannt wurden, der seinen repräsentativen Landsitz auf dem Gelände des heutigen Hammer Parks bewohnte. 2018 beschloss der Regionalausschuss Horn/Hamm/Rothenburgsort, „dass Amalie Sieveking (1794-1859) besonders gewürdigt werden muss.“[2] Hierzu wurde eine Plakette im Sievekingdamm angebracht, die an die Vorreiterin der Sozialarbeit und Armenpflegerin erinnert. Auf dem historischen Alten Hammer Friedhof befindet sich die Familiengruft der Sievekings, in der sowohl Amalie als auch Karl beigesetzt wurden. Das graue, monumentale Familiengrab überstand die Luftangriffe im 2. Weltkrieg.

Nach ihr benannt sind auch der Amalie-Sieveking-Weg in Wandsbek, die Amalie Sieveking-Stiftung auf St. Georg und das Evangelische Amalie Sieveking Krankenhaus in Volksdorf. Auch über die Grenzen von Hamburg hinaus ehren meist kirchliche Einrichtungen die Mitbegründerin der organisierten Diakonie als Namensgeberin.

Alte Jungfer und Armenpflegerin

Amalie Sievekings Leben und Wirken spielte sich vornehmlich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ab und ist damit unser frühestes „Frauen-Beispiel“. Blättert man in Zeitungsartikeln und Publikationen zu Amalie Sieveking, stößt man immer wieder auf den unliebsamen Ausdruck der „Alten Jungfer“. Dass Amalie Sieveking nie verheiratet war, mag nicht nur unüblich für ihre Zeit gewesen sein. Ihre Ehelosigkeit, so Inge Grolle, versuchte Amalie Sieveking ins Positive zu wenden und nahm sie zum Anlass, sich der Hilfe von Bedürftigen zu widmen.[3] Auf humorvolle Weise eignete sie sich den Stempel der Alten Jungfer an, was auch aus ihren Memoiren lesbar ist, die ihre Freundin Emma Poel 1860 veröffentlichte:

„Sie erzählte einst ihren jungen Schülerinnen, daß jemand ihr Leben ein dornenvolles genannt, und bemerkte dazu: „Das war es nicht, und sollte ich meine Lebensgeschichte herausgeben, so würde ich es vielleicht unter dem Titel: „Memoiren einer glücklichen alten Jungfer“ thun, und damit zu beweisen suchen, daß es auch außerdem dem Eldorado der Ehe ein Glück giebt.“[4]

Den Grundstein für ihre karitative Arbeit legte sie selbst im Alter von 19 Jahren, als sie im Haus der Cousine ihrer Mutter begann, Mädchen aus dem Bekanntenkreis zu unterrichten. 1815 gab sie Schulkurse in einer Freischule für Mädchen. Die Lehrtätigkeit nahm bis zu ihrem Lebensende einen wichtigen Stellenwert ein. Legitimation für ihre zu der Zeit noch für Frauen unübliche Berufstätigkeit nahm sie aus ihrem christlichen Glauben. Und infolgedessen hagelte es Kritik, als sie als Frau ohne Ausbildung Religion unterrichtete. Dies hinderte sie aber auch nicht, 1823 ihre eigene Interpretation von Bibelstellen zu veröffentlichen. Auch hier wurde wieder Kritik laut, was sich Sieveking als Frau anmaße, gäbe es doch ein Gebot, das Frauen in der Gemeinde zum Schweigen befehlige. Amalie Sieveking wusste sich dagegen zu verteidigen und stellte in Frage, ob denn tatsächlich professionelle Kenntnisse für das Lesen und Verstehen der Bibel vonnöten wären. Emanzipatorische Ansätze sieht Inge Grolle hierin aber nicht, es habe für Amalie Sieveking die Überlegenheit von Männern außer Frage gestanden.[5]

Ihre Erfüllung versuchte Amalie Sieveking in der Hilfe für Bedürftige zu finden. Inspiriert von katholischen weiblichen Orden entwarf sie Regeln für eine evangelische Schwesternschaft. Doch zur Ausführung kam es nicht. Als 1831 die Cholerapandemie in Hamburg ausbrach, rief Sieveking weitere Frauen im „Bergedorfer Boten“ zur Unterstützung eines Krankenhauses auf. Möglicherweise aus Angst vor der Ansteckung gab es keine Rückmeldungen, sodass Amalie Sieveking sich alleine ins Krankenhaus aufmachte. Auch dort stand ihr das Krankenhauspersonal kritisch gegenüber, aber zunehmend wurden ihr dankend verantwortungsvolle Aufgaben übertragen. Die schlechte Versorgung, von der insbesondere der ärmere Bevölkerungsteil betroffen war, regte sie schließlich dazu an, 1832 den „Weiblichen Verein für Armen- und Krankenpflege“ zu gründen. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten gewann sie immer mehr Frauen dazu, mit ihr mittellose und erkrankte Personen zu besuchen und Hilfestellung anzubieten. Durch die Vereinsarbeit zog sich jedoch auch Sievekings paternalistische Haltung, da sie die gesellschaftliche Zweiteilung von Arm und Reich als „gottgewollt“ betrachtete. Zuwendung stand ihrer Meinung nach vor allem Personen zu, die unfreiwillig in Armut geraten waren. Das zeigte sich auch in strengen Regeln für die, die in das 1840 eröffneten „Amalienstift“ in St. Georg zogen – ein Wohnstift für arme Familien, das nicht das einzige in Hamburg bleiben sollte. Und auch andernorts entstanden Einrichtungen nach ihrem Vorbild. Bis in die 1920er-Jahre war der Verein aktiv, bis die Sozialarbeit in staatliche Hände überging.[6] 1976 wurde aus dem Verein die gemeinnützige Amalie Sieveking-Stiftung,[7] die noch heute in St. Georg Wohnraum für Menschen ab 60 Jahren bietet, die einen erschwerten Zugang zum Wohnungsmarkt haben.[8]

Elisabeth und Luise haben keine Nachnamen

In Hamm gibt es knapp einhundert Straßen. Die Straßennamen erinnern häufig an Personen, die einen Bezug zum Stadtteil haben. Zwei der Straßen wurden ursprünglich nach Frauen benannt. Und um das im größeren Kontext zu betrachten: Von den 8.800 benannten Verkehrsflächen sind 2.868 nach Männern und 474 nach Frauen benannt.[9]

Genauer gesagt sind die zwei Hammer Straßen „Am Elisabethgehölz“ und „Luisenweg“ nach den Töchtern prominenter Väter benannt und kommen daher scheinbar ohne Nachnamen aus. Ihre Väter Karl Sieveking und Peter Heinrich Wilhelm Großmann[10] waren in Hamm sesshaft geworden. Weiterführende Informationen zu Elisabeth Sieveking (1825-1884) und Julie Louise Großmann (1848-1925) sind über das „Tochter-Sein“ hinaus nicht so leicht zu finden.

Nicht nur der Sievekingdamm wurde umgewidmet. Auch der Wichernsweg, der ursprünglich nach dem Theologen Johann Hinrich Wichern benannt wurde, erinnert nun auch an seine Frau und leitende Mitarbeiterin Amanda Wichern. Gleiches gilt für die Döhnerstraße, die 2017 um die Ehefrau des einstigen Geländeinhabers August Friedrich Gustav Adolph Döhner und Stifterin Sophie Döhner ergänzt wurde.

Eine 2020 einberufene Kommission der Behörde für Kultur und Medien setzt sich darüber hinaus mit NS-belasteten Straßennamen in Hamburg auseinander. So wurde 2024 auf Vorschlag der Stadtteilinitiative Münzviertel der Högerdamm in Hammerbrook umbenannt, der nach dem Architekten und einstigen NSDAP-Mitglied Fritz Höger benannt wurde. Heute erinnern der neue Recha-Lübke-Damm und der Bella-Spanier-Weg an zwei jüdische und engagierte Lehrerinnen, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden.[11]

Der fast einen Kilometer lange Sievekingdamm hieß übrigens in der NS-Zeit Horst-Wessel-Straße. Horst Wessel war Sturmführer bei der SA (Sturmabteilung, paramilitärische Kampforganisation der NSDAP), der nach seiner politisch motivierten Ermordung durch KPD-Mitglieder von den Nationalsozialisten zum Märtyrer und zur Ikone stilisiert wurde.[12]

Männerüberschuss

Die individuelle und freizeitliche Auseinandersetzung mit Straßennamen – also ob jemand davor stehen bleibt und sich fragt: „Wer oder was ist ein Bethesda?“ – sei dahingestellt. Straßennamen geben im Alltag Orientierung, geben unserem Zuhause eine Adresse und schreiben sich so in unser Gedächtnis ein. Und Straßennamen geben uns (vermeintlich) wichtige historische Persönlichkeiten vor und prägen damit unser Geschichtsbild.[13] Es könnte also der Eindruck entstehen, dass es viel mehr spannende und wichtige männliche Personen gibt, an die Straßennamen erinnern, als weibliche. Publikationen, wie die der Historikerin Rita Bake, setzen sich längst kritisch mit der Überzahl der nach männlichen Personen benannten Straßen auseinander. Hinter dem „Männerüberschuss“[14] erkennt Bake patriarchale Systematiken. Dazu gehöre allen voran die Deklassierung des Weiblichen zu Gunsten einer Aufrechterhaltung hegemonialer Männlichkeit. Also einer Dominanz männlicher Personen, die eine Unterordnung weiblicher Personen bedingt. Dies geschähe beispielsweise durch eine Unterteilung in „wichtige Männer- und unwichtige Frauentätigkeiten“[15] wie das „Hausfrauensein“, welches vermeintlich keiner Verankerung im öffentlichen Gedächtnis bedürfe. So finde man beispielsweise häufiger die Namen von Ortsleitern bei Straßennamen als die von Hebammen, denen aber ebenso eine wichtige Bedeutung in der Stadtentwicklung zukommt. Und auch, wenn Frauen dann tatsächlich mal Vergleichbares leisteten, so Bake, blieben sie nicht vergleichbar in Erinnerung und werden somit auch nicht erinnert.[16] Die Benennung von Straßen trägt ihren Teil dazu bei.

2013-2015 wurde vom Hamburger Senat ein Gleichstellungspolitisches Rahmenprogramm erlassen, das sich eine gleichberechtigte Straßenbenennung zum Ziel setzte.[17] In der aktuellen Version von 2023 ist keine eindeutige Passage mehr zu finden.[18] Dennoch bemüht sich die Stadt Hamburg zunehmend um eine Benennung neuer Straßen nach Frauen, und auch Doppelnennungen nehmen zu, die „verschwiegene Frauen“ würdigen sollen.[19]

Und wer sich fragt: „Aber gibt es denn eigentlich genug Frauen, nach denen eine Straße sinnvoll benannt werden könnte?“ – Die gibt es. Über 1.316 Frauen werden aktuell in der „Hamburger Frauenbiographie-Datenbank“ versammelt, vorgestellt und sind mit wenigen Mausklicks recherchierbar.[20]

[1] Karl Sieveking war Jurist, Kunstförderer und Politiker (1787-1847). Er leitete ab 1820 die Hamburger Außenpolitik. Vgl.: Emmerink, Malina: Weltgewandter Hanseat und kolonialer Phantast, in: Universität Hamburg: Allgemein, Hamburg: Tor zur kolonialen Welt, URL: https://kolonialismus.blogs.uni-hamburg.de/2021/12/17/karl-sieveking-weltgewandter-hanseat-und-kolonialer-phantast/ (Stand: 12.06.2024).

[2] Hamburger Wochenblatt: Amalie Sieveking wird gewürdigt, 18.04.2018. (fbt)

[3] Grolle, Inge: Amalie Sieveking (1794-1859), in: Heidenreich, Ulrich; Grolle, Inge: Wegbereiter der Diakonie. Johann Wilhelm Rautenberg. Amalie Sieveking. Hamburg, 2005, S. 72.

[4] Emma Poel: Denkwürdigkeiten aus dem Leben von Amalie Sieveking. In deren Auftrage von einer Freundin derselben verfaßt, Hamburg 1860, S. 27-28.

[5] Grolle, Inge: Amalie Sieveking (1794-1859), in: Heidenreich, Ulrich; Grolle, Inge: Wegbereiter der Diakonie. Johann Wilhelm Rautenberg. Amalie Sieveking. Hamburg, 2005, S. 72-126.

[6] Ebd.

[7] Amalie Sieveking-Stiftung: Geschichte. Amalie Sieveking – Wegbereiterin der Sozialarbeit, URL: https://www.sieveking-stiftung.de/stiftung/geschichte (Stand: 06.05.2024).

[8] Amalie Sieveking-Stiftung: 190 Jahre Engagement in Hamburg St. Georg, URL: https://www.sieveking-stiftung.de/ (Stand: 06.05.2024).

[9] Behörde für Schule und Berufsbildung: Nach Personen benannte Straßennamen, URL: https://www.hamburg.de/strassennamen/ (Stand: 22.04.2024).

[10] Peter Heinrich Wilhelm Großmann war Senator in Hamburg und Landherr der Vier- und Marschlande (1807-1886). Eine Straße in Rothenburgsort ist nach ihm benannt. Vgl.: Beckershaus, Horst: Die Hamburger Straßennamen. Woher sie kommen und was sie bedeuten, Hamburg 1999, S. 133.

[11] Behörde für Kultur und Medien: Gedenken an Opfer des Nationalsozialismus. Högerdamm wird in Recha-Lübke-Damm und Bella-Spanier-Weg umbenannt, URL: https://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/18233544/hoegerdamm-in-recha-luebke-damm-und-bella-spanier-weg-umbenannt/ (Stand: 25.04.2024), 20.02.2024.

[12] Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, Lexikon: Horst Wessel, URL: https://www.politische-bildung-brandenburg.de/lexikon/horst-wessel (Stand: 06.05.2024).

[13] Bake, Rita: Ein Gedächtnis der Stadt. Nach Frauen und Männern benannte Straßen, Plätze, Brücken in Hamburg, Band 1, Hamburg 2015, S. 6-7.

[14] Ebd., S. 8.

[15] Ebd., S. 24.

[16] Ebd., S. 24-28.

[17] Ebd., S. 20.

[18] Vgl.: Freie und Hansestadt Hamburg: Gleichstellungspolitisches Rahmenprogramm (GPR), 2013, URL: https://www.hamburg.de/contentblob/16837944/2d0c04b4e82d7f5bbeaa3982e25cfe2c/data/2023-01-17-gpr.pdf (Stand: 23.04.2024).

[19] Bake, Rita: Verschwiegene Frauen – oder: Wie noch mehr Frauen durch einen Straßenamen gewürdigt werden können:, März 2024, URL: https://www.hamburg.de/contentblob/13456606/217d866434c190e3535b5bea87bab12e/data/verschwiegene-frauen-aufsatz.pdf (Stand: 23.04.2024).

[20] Behörde für Schule und Berufsbildung: Datenbank. Hamburger Frauenbiografien, URL: https://www.hamburg.de/frauenbiografien/ (Stand: 25.04.2024).

Nadia Pardis
Collage von Vera Drebusch (2024)
Fotografie „Nadia Pardis“, Vera Drebusch (2024) / Fotografie „Buffet“, Nadia Pardis (2021)
Installation: Thörls Park und Südpol

Nadia Pardis schilderte uns im Interview die Situation von Frauen in Afghanistan und erzählte von ihrer Entscheidung nach Deutschland zu fliehen.

Nadia Pardis

Nadia Pardis ist 1990 in Herat, Afghanistan geboren. In Herat hat sie Geschichte in der 7. und 8. Klasse unterrichtet. Geschichte war schon in der Schulzeit ihr Lieblingsfach, in dem sie immer die besten Noten hatte. So entschied sie sich für ein Geschichtsstudium. Seit Anfang 2016 lebt sie in Hamburg. In Deutschland wird ihr Studium nicht vollständig anerkannt. Mit ihrem Abschluss darf sie als Erzieherin arbeiten – um als Lehrerin zu arbeiten, müsse sie jedoch noch einmal studieren.

Nadias ältester Bruder lebte bereits in Deutschland, als sie 2016 mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter in Hamburg ankam. Ihre anderen Geschwister und ihre Eltern wohnen noch in Afghanistan. Sie würden gerne nachkommen, aber das ist aufgrund der aktuellen politischen Situation nicht möglich. Nach dem Abzug westlicher Truppen ist Afghanistan seit August 2021 unter Kontrolle der radikalislamistischen Terrororganisation der Taliban. Durch die neue Gesellschaftsordnung der Taliban kommt es zu verheerenden Menschenrechtsverletzungen, zu Diskriminierung, Verfolgung und körperlichen Strafen.[1] Die Bilder von Menschen, die sich verzweifelt an startenden Flugzeugen festhalten, um aus Afghanistan zu fliehen, sind bekannt. „Wegen den Kindern wollen sie auch unbedingt rauskommen aus Afghanistan“, erzählt uns Nadia, „besonders Mädchen dürfen nicht lernen, dürfen nicht rausgehen.“ 2018 traf sie ihre Familie das letzte Mal bei Maschhad, einer iranischen Stadt sechs Stunden von der Grenze zu Afghanistan entfernt.

Ihr Mann Homayoon arbeitete bis 2015 für internationale Organisationen in Herat, die sich für Bildungsgleichheit, Menschen- und Frauenrechte einsetzten. Nachdem Homayoons Organisation WASSA (Women Activities & Social Service Association) ihre Rechercheergebnisse zu Frauenrechten in Afghanistan veröffentlichte, begannen die Drohungen und Repressionen von Seiten der Taliban. Im Bekanntenkreis häuften sich die Entführungen. Und Nadias Familie erhielt Drohbriefe.[2] Sie hatten Angst, verließen das Haus nur noch selten und entschieden sich zu fliehen.

Die Flucht dauerte über eineinhalb Monate. Durch insgesamt acht Länder sind sie gereist: mit dem Flugzeug, mit dem Bus, mit dem Zug, mit dem Schiff, mit dem Boot und zu Fuß. Da war ihre älteste Tochter dreieinhalb Jahre alt. Um Europa zu erreichen, mussten sie mit dem Boot von Bodrum in der Türkei auf die griechische Insel Kos fahren. Bei der Überfahrt befanden sich 70 Personen auf dem Schlauchboot, das eigentlich für maximal 15 Menschen ausgelegt ist. In der Mitte saßen die Frauen und Kinder. In der Nacht war es so dunkel, dass sie nichts sehen konnte, berichtet Nadia uns. Und immer wieder lief Wasser ins Boot hinein. Die Passagiere nutzten, was sie dabei hatten, um das Wasser aus dem Boot zu schippen. Nadia nahm ihr Käppi. Als das Boot nach zwei Stunden ankam, hatte Nadia große Angst auszusteigen. Sie ist Nichtschwimmerin. Nach einer Weile konnte ihr Mann Homayoon sie beruhigen, dass sie doch bereits am Strand angekommen sind.

„Dann fingen wir nochmal neu an.“

Das Ankommen in Hamburg war nicht leicht. Alles war anders. Eine fremde Sprache. Eine neue Kultur. Es hat lange gedauert, sich zurecht zu finden. Sie erzählt uns von den vielen Terminvereinbarungen und der langen Schlange bei der Wohnungsbesichtigung. „In Afghanistan kannst du in einem Tag eine Wohnung finden und dann am nächsten Tag umziehen.“ Ihre Familie hat viel Hilfsbereitschaft in Hamburg erfahren. Ihre „deutsche Mama“, Barbara, hat ihr bei der Wohnungs- und Kitasuche geholfen, mit der Sprache, bei allen möglichen Schwierigkeiten und auch mit ihrer chronischen Erkrankung. Barbara fiel Nadia sofort ein, als wir sie fragten, ob sie ein weibliches Vorbild hat.

„Ich habe keine Antwort für dich“

Wir fragten auch, wie es um die Frauenrechte bestellt war, als Nadia aufwuchs. „Damals war es für Frauen nicht leicht, aber besser.“ Frauen durften zur Schule gehen, die Universität besuchen und arbeiten. Ihre älteste Tochter geht in Hamburg in die 6. Klasse. In Afghanistan dürfen Mädchen seit März 2022 ab der 7. Klasse nicht mehr die Schule besuchen.[3] Nadia erklärt, dass ihre Tochter dann zu Hause bleiben müsste und ohne ihre Eltern und Kopfbedeckung das Haus nicht verlassen dürfte, weil sie ein Mädchen ist. Nadia spricht viel mit ihrer Tochter über die Situation in Afghanistan und Parnian fragt immer wieder, warum Mädchen in Afghanistan nicht lernen dürfen. Aber die Antwort hat Nadia nicht.

Zusammen essen – ba ham Ghasa khordan

Seit 2021 ist Nadia Pardis ehrenamtlich als Projektleiterin im Kulturladen Hamm tätig. Bei ihrem ersten Projekt lud sie Frauen aus Geflüchteten-Unterkünften und aus der Hammer Nachbarschaft zum gemeinsamen Kochen, Essen und Kennenlernen ein. Sie wollte aktiv werden, rauskommen und Frauen unterstützen, die neu in Hamburg sind. Als sie 2016 mit ihrer Familie in Hamburg ankam, wohnten Nadia und ihre Familie in einer Erstaufnahmeeinrichtung. Dort gab es kaum Angebote. Viele Frauen blieben mit den Kindern zu Hause. In den Unterkünften musste immer ein Familienmitglied vor Ort sein. Ihr Mann Homayoon begann mit dem Sprachunterricht. Sie nahm Kontakt zur Caritas und zum Kulturladen auf. Die ersten Projektanträge waren schnell geschrieben. Und aufgetischt wurde dann reichlich: Kabuli Palau, Boranie Badenjan und Farni, ein Pudding gewürzt mit Rosenwasser und Safran, von dem auch die Autorin dieses Textes schnell mal zu viel essen kann. Und Nadias Essen zaubert auch einem ebenfalls aus Afghanistan stammenden Mitarbeiter des Kulturladens ein Lächeln auf die Lippen, wenn er nur daran denkt. Erfreulicherweise wartete Nadia nicht lange nach dem Interview mit einer Einladung zum Essen, die wir nur zu gerne angenommen haben.

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Auch ihr Folgeprojekt „Frauenbildungscafé“ hatte das Ziel Frauen dazu zu motivieren, die neue Stadt kennenzulernen. Eine kostenlose Kinderbetreuung sollte ihnen die Teilnahme ermöglichen. Über zwei Jahre lief das Projekt, das vom Internationalen Bund gefördert wurde. Über 30 Frauen aus dem Stadtteil nahmen daran teil.

[1] Auswärtiges Amt: Afghanistan: Politisches Porträt, in: Auswärtiges Amt, URL: Afghanistan: Politisches Porträt – Auswärtiges Amt (auswaertiges-amt.de) (Zugang: 13.03.2024).

[2] Pardis, Homayoon; Hoffmann-Riem, Rose-Marie: Papa, warum sind wir hier? Hamburg 2022, S. 29-35.

[3] Amnesty International: Afghanistan: Systematische Entrechtung von Frauen und Mädchen zwei Jahre nach Machtübernahme der Taliban, in: Amnesty International, URL: https://www.amnesty.de/allgemein/pressemitteilung/afghanistan-entrechtung-von-frauen-und-maedchen-taliban-machtuebernahme#:~:text=Seit%20M%C3%A4rz%202022%20d%C3%BCrfen%20M%C3%A4dchen,dem%20zehnten%20Lebensjahr%20verboten%20werden. (Zugang: 21.02.2024).

Lara Fabienne Minga
Collage von Vera Drebusch (2024)
Fotografie “Lara Fabienne Minga”, Vera Drebusch (2024) / Notenblatt, Clemens Bittlinger
Installation: Elbschloss an der Bille (entfernt) und Südpol

In unserem Interview berichtete Lara von ihrer Motivation zur ehrenamtlichen Mitarbeit in der Hammer Kirchengemeinde.

Lara Fabienne Minga

Wir trafen Lara Fabienne Minga im Jugendkeller der Hammer Kirche, der vor zwei Jahren renoviert wurde. Es gibt einen Tresen, an dem Getränke für kleines Geld erworben werden können, einen Billardtisch, einen Tischkicker und jede Menge Spiele. In der hinteren Ecke stehen gemütliche Sofas, auf denen wir Platz nehmen. Die Bilder an den Wänden sind alle selber gemalt.

Lara ist 21 Jahre alt und damit die jüngste Frau, die wir im Rahmen unseres Projektes interviewen. 

Vor etwa 10 Jahren wurde sie in der Hammer Kirchengemeinde konfirmiert. Am Ende ihrer „Konfizeit“ wurde gefragt, wer von den insgesamt 40 Konfirmant*innen in diesem Jahr eine Teamercard machen möchte – eine Schulung zur*m Teamgruppenleiter*in von Jugendlichen. Sie selbst hat gute Erinnerungen an die Teamer*innen, die sie begleitet haben und immer motiviert waren. Während einer Konfifreizeit, erzählt uns Lara mit einem Lachen im Gesicht, haben die Teamer*innen auch mal nachts um 3 Uhr die Tür mit Stühlen versperrt.

Seither engagiert sie sich ehrenamtlich für die Gemeinde, und seit einem Vierteljahr ist sie Teil des Kirchengemeinderats. In insgesamt 3 Ausschüssen sitzt sie: Öffentlichkeit, Jugend und Bau. Besonders die Kinder- und Jugendarbeit liegt ihr am Herz. Jeden Freitagnachmittag gestaltet sie den Kindergottesdienst mit. In den Vorbereitungstreffen mit Diakon Stephan Baruschka diskutiert sie zusammen mit anderen Teamer*innen die Themen, die sie für jeden Gottesdienst kindgerecht aufbereiten. Vor den Sommerferien haben sie viel zur „Karwoche“ gemacht, der Woche vor Ostern. Im Anschluss jedes Gottesdienstes kann dann noch gemeinsam Zeit verbracht werden: Toben im Bewegungsraum, Basteln oder Kickern im Jugendkeller. Für Lara stellt der Kindergottesdienst eine Möglichkeit für die Kinder da, vor dem Wochenende den Alltag ausklingen zu lassen.

Raum für Gemeinschaft

In den letzten Jahren sinken die Mitgliederzahlen der Hammer Kirchengemeinde rapide, erzählt uns Lara. In diesem Sommer gab es innerhalb von zwei Monaten etwa 40 Austritte. Die Kirchensteuer wird vom Bruttogehalt abgezogen. Sie kann nachvollziehen, dass sich das viele nicht leisten können. Oft haben die Menschen ihrer Meinung nach ein sehr konservatives Bild von der Kirche. Dem sei aber nicht so. Das ist auch ein Grund, wieso sie sich für den Gemeinderat beworben hat. Lara möchte sich mit ihren Ideen und ihrem Wissen aktiv am Gemeindeleben beteiligen. Fehlen tun ihrer Meinung nach Angebote für junge Erwachsene. Für die Zukunft wünscht sie sich, junge Menschen mehr einzubinden. Die Gemeinde sei ein Ort, um gemeinsam etwas zu bewegen, und der Raum schafft, um miteinander zu leben. „Ich find‘, die Gemeinde ist einfach ein Ort, an dem man dem Alltag entfliehen kann. Wenn man sich hier mit ein paar Leuten trifft, die man seit 10 Jahren kennt und dann reinkommt – man ist immer herzlich willkommen, und es ist einfach ein schönes Gefühl, was ich auch wirklich jedem Menschen wünschen würde.“ Sie hat hier enge Freundschafen geknüpft. Ihre „anderen Freund*innen“ kommen auch gerne mal mit – auch wenn der letzte Spieleabend damit endete, dass sie spontan gemeinsam ein Bühnenbild gemalt haben.

Die fehlenden Mitgliederzahlen zeichnen sich auch an anderer Stelle ab. Die Dankeskirche in der Süderstraße wurde 2021 entwidmet. Vermutlich noch in diesem Jahr soll das Gebäude abgerissen werden. Der neue Pächter möchte hier Wohnungen bauen. In der Pauluskirche im Quellenweg, die ebenfalls zur Hammer Kirchengemeinde gehört, findet am 10. November 2024 der letzte öffentliche Gemeindegottesdienst statt. Danach wird die Kirche für die angrenzende Paulusschule und Pauluskita genutzt. Als Teil des Steuerungsausschusses diskutiert Lara mit, wie die Kirche weiter genutzt werden kann.

Lara studiert auf Grundschullehramt und arbeitet in der Nachmittagsbetreuung der Wichernkirche. An einem Wochenende im Monat arbeitet sie zudem in einem Eiscafé in Wandsbek. Früher hat sie auch noch Handball gespielt. Nachdem sich ihre Mannschaft auflöste, hörte sie mit dem Handball auf. Das war manchmal schon viel, auch wenn sie es gerne getan hat. Ihren vollen Terminkalender will sie dennoch nicht missen. Ein bisschen eifert sie auch ihrer Mutter nach, die immer alles unter einen Hut bekomme und stets hilfsbereit sei, erzählt sie uns. „Wenn sie das schafft, dann schaffst du das auch.“, sagt sie sich in stressigen Phasen. Ans Durchatmen erinnern sie Freund*innen und Familie. Termine in der Gemeinde versucht sie so zu legen, dass sie lange Wege vermeidet.

Es gab Phasen, in denen sie weniger Zeit hatte. Die Gemeinde gab ihr aber immer das Gefühl jederzeit zurückkommen zu können. Hier in der Gemeinde, so Lara, gerät man nicht in Vergessenheit. Lara hat lange in der Steinbecker Straße, in der Nähe der Dankeskirche, gewohnt. Nach dem Auszug bei ihren Eltern fand sie keine bezahlbare Wohnung in Hamm. Irgendwann wieder hierhin zu ziehen kann sie sich vorstellen.

Emma Dorothee Schütze
Collage von Vera Drebusch (2024)
Fotografie “Emma Dorothee Schütze” (ca. 1933), Privatbesitz / Bahngleise, Falk2
Installation: U-Bahn Hammer Kirche und Südpol

In unserem Interview erzählte uns Elke Kuhlwilm von der Tätigkeit ihrer Großmutter im Reichsbahnausbesserungswerk in Stendal und einer Begegnung ihrer Großeltern.

Emma Dorothee Schütze

Elke Kuhlwilm lud uns für das Interview zu sich nach Hause ein. Als wir im Wohnzimmer Platz nahmen, lagen die Fotoalben ihrer Familie schon bereit. Elke Kuhlwilm zeigt auf ein großes Familienportrait: „Das ist meine Großmutter: Emma Dorothee Schütze.“

Emma Dorothee Schütze ist am 3. August 1897 in Tangermünde geboren als eines von 11 Kindern. Nach der Grundschule ging sie zunächst wie damals viele junge Frauen in den Dienst als Dienstmädchen.[1] Denn für eine Schulausbildung hatte ihre Familie kein Geld. Der Dienst, berichtet Elke Kuhlwilm, gefiel ihrer Großmutter aber so überhaupt nicht. Vermutlich deshalb hat in ihrem Dienstmädchenausweis auch „Emma ist störrisch“ gestanden. Ihre Großmutter, findet sie, war aber eigentlich nicht störrisch, sondern schlagfertig. Und das meint sie auch ganz wörtlich, als sie uns  erzählt, wie ihre Großmutter einem „halbwegs besoffenen“ Gast in einer Schiffergaststätte in Tangermünde einmal ein Scheuertuch um die Ohren haute, als der ihr beim Wischen nach Feierabend unter den Rock fasste. Die Wirtin habe ihr nur zugerufen: „Emma, lass das bleiben. Das ist mein bester Kunde“ – worauf Emma Dorothee Schütze ihr mit „Aber nicht meiner!“ entgegnete. Sowas mochte sie überhaupt nicht.

Danach hat sie sich nach einer anderen Stelle umgeguckt. In Stendal gab es ein Reichsbahnausbesserungswerk. Die Bezahlung dort war ein bisschen besser, und es gab Brot. Aber es brauchte auch etwas Durchsetzungsvermögen, um die Stelle zu bekommen, erklärt Elke Kuhlwilm. Ihre Großmutter sei dort nämlich die erste beschäftigte Frau gewesen. Und man habe sich zunächst lange beraten, wie das denn gehen solle, es gäbe ja nur eine Herrentoilette. So wurde dann eben eine Toilette für Damen fertiggestellt.

Hühnereierschieben

„Das mit der Haltung“ habe Elke Kuhlwilm von ihrer Großmutter vererbt bekommen. In ihrer Familie sei es selbstverständlich, für die wichtigen Dinge einzustehen und füreinander zu sorgen. Kurz nach dem Krieg habe ihre Oma „geschoben“: Auf dem Hof ihres Fachwerkhäuschens in Tangermünde hatten sie Hühner. Morgens um vier Uhr steckte sich ihre Großmutter die frischen Hühnereier in einen Stoffgürtel um die Hüfte. Mit dem Fahrrad fuhr sie zur Bahn und von dort aus nach Berlin. Auf dem Schwarzmarkt tauschte sie die Eier in Wurst oder Heringe um. Heringe hat sie wiederum zum Bauern in Tangermünde gebracht, wofür es dann Wurst gab. Sie kriegte es auch fertig, erzählt Elke Kuhlwilm weiter, sich für die Zugfahrt nach Berlin ein frisch geschlachtetes Huhn zwischen die Beine zu binden. Die Schaffner hatten häufiger mal den Verdacht, dass im Zug „geschoben“ werden könnte, und ließen die mit Röcken bekleideten Frauen Probe gehen. In Berlin angekommen wurde das Huhn wieder umgetauscht.

Die vielen Passagen aus ihrem Leben erzählte ihre Oma ihr bei gemeinsamen Spaziergängen oder Einkäufen. Im Alter von 38 verstarb ihre Mutter, sodass Elke Kuhlwilm viel Zeit mit ihrer Großmutter verbrachte und sie auch auf ihren Reisen begleitete. Ihre Großmutter war immer schon sparsam, schickte der Familie auch bereits in ihrer Dienstmädchenzeit Geld. Sie selbst leistete sich davon Bücher und manchmal auch Karten für die Oper. Bei einem Opernbesuch gab ihre Oma auch einmal mit ihr an: „Das ist meine Enkelin, sie geht mit mir in die Oper. Geht ihre Enkelin mit Ihnen in die Oper? Nein? Och, das tut mir aber leid.“

Gerade miteinander

Die Beziehung zu ihrer „Omi“ war innig. Sie haben sich einander anvertraut und waren immer „gerade“ miteinander. So auch als ihre Großmutter im Sterben lag und sie fragte, ob sie wohl ihre Tochter wiedersehen würde. „Omi, das weiß ich nicht“, antwortete sie ihr. Sie ist sich sicher, alles andere hätte sie ihr nicht geglaubt.

Als ehemalige Krankenschwester hat Elke Kuhlwilm viele Menschen beim Sterben begleitet. Allein die Vorstellung, dass jemand, den man mag, alleine ist, wenn er stirbt, ist für sie ganz furchtbar. Sie versuchte, so oft es die Arbeit zuließ bei ihrer Oma zu sein. Sie ist dankbar, dass die Familie da war, als ihre Großmutter am 20. Januar 1993 „wegflog“. Elke Kuhlwilm kam gerade von einer Dienstreise zurück und beeilte sich, um rechtzeitig bei ihr zu sein. Als sie das Zimmer betrat öffnete Emma Dorothee Schütze ihre Augen, erzählt Elke Kuhlwilm, nach dem Motto: „Naja bitte, jetzt wird’s aber auch mal Zeit.“

„Wohin hätte ich denn gesollt mit all‘ meiner Liebe, wenn ich euch nicht gehabt hätte.“ – diesen Spruch ihrer Oma trägt Elke Kuhlwilm immer in ihrem Herzen.

Elke Kuhlwilm ist 1942 in Tangermünde (DDR) geboren und lebt in Hamm. Seit 2014 war sie u.a. Abgeordnete der SPD der Bezirksversammlung Hamburg-Mitte. Ihre Großmutter Emma Dorothee Schütze hat nach der Flucht aus der DDR erst in Horn und dann 30 Jahre im Chapeaurougeweg in Hamm gelebt.

[1] Um 1900 war Dienstmädchen der am weitesten verbreitete Beruf unter Frauen, der sie auf ihr späteres Leben als Haus- und Ehefrau vorbereiten sollte. Gorse, Christiane: Adel. Geschichte des Hauspersonals, in: planetwissen, URL: https://www.planet-wissen.de/geschichte/adel/geschichte_des_hauspersonals/index.html (Stand: 24.05.2024).

Kolumnen im Hamburger Wochenblatt: Neues aus der Nachbarschaft

Jede der wöchentlich erscheinenden Kolumnen wird hier kurz nach Herausgabe hochgeladen.

Auf Instagram kann man das Projekt ebenso verfolgen und kommentieren:  → Frauen in Hamm auf Instagram

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Impressum und Danksagung

Konzept und Installation: Vera Drebusch und Stephanie Kanne
Collagen: Vera Drebusch
Texte: Stephanie Kanne
Lektorat: Anne Pape, Gunnar Wulf, Rolf Jertschat und Anke Stegemann

Mit freundlicher Unterstützung der Behörde für Kultur und Medien Hamburg.
Besonderer Dank für die Unterstützung an Sina Peters (Elbschloss an der Bille), Katrin Lohmann, Kulturelles Neuland e.V., Anne Pape, Sybilla Althaus, Amin Saee, Dominik Blumert, Tim Becker, Anke Stegemann, Rolf Jertschat, Detlev Meyer, Johannes Kühn und Hans Kanne.